Jugend ohne Heimat
Verlust und Hoffnung
Am Wiener Westbahnhof steht auf der Ebene der Kassenhalle auf der linken Seite ein ganz besonderes Denkmal, an dem jeden Tag unzählige Menschen vorbeigehen. Manche fragen sich vielleicht, was der auf dem Koffer sitzende Junge darstellen soll. Die von der Künstlerin Flor Kent geschaffene Bronzeskulptur “Für das Kind” erinnert an die Kindertransporte, die vom Westbahnhof wegfuhren. Das Mahnmal wurde auf Initiative von Milli Segal und mit Unterstützung der ÖBB-Holding AG und des Bundesministeriums für Verkehr, Innovation und Technologie errichtet. Eingeweiht wurde es am 14. März 2008, in Anwesenheit von Sara Schreiber, einem jener “Kinder”, die durch den Kindertransport gerettet wurden und ihrem Urenkel, Sam Morris, der für das Mahnmal Modell gestanden hat. Bei diesem Mahnmal geht es um das Erinnern an die Kindertransporte, die Dankbarkeit für die Retter und gleichzeitig sind die Turnschuhe und die Kippa Sinnbild dafür, dass die Kindertransporte den Grundstein für die Zukunft gelegt haben.
Während in Großbitannien die Geschichte der Kindertransporte bereits Teil der britischen Geschichte geworden ist, wurde diesem Aspekt der Geschichte in Österreich bisher außerhalb des wissenschaftlichen Bereichs kaum Aufmerksamkeit geschenkt.
Kindertransporte wurden in Deutschland bereits seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten ab dem Jahr 1933 organisiert. Eine der zentralen Personen, die mit ihrem unermüdlichen Einsatz zur Rettung von tausenden Kindern beigetragen haben, war Geertruida Wijsmuller-Meijer, Tante “Truus”, über deren Tätigkeit ich in einem eigenen Artikel bereits berichtet habe: https://www.diequerdenkerin.at/tante-truus/
In Österreich begannen die Kindertransporte nach dem Anschluss an das Deutsche Reich und dem Novemberpogrom 1938. Vor allem die massiven Gewaltausbrüche beim Novemberpogrom trugen dazu bei, dass sich mehrere Länder bereiterklärten, unbegleitete Kinder aufzunehmen.
Anhand der aktuellen Forschungslage kann nachgewiesen werden, dass zwischen Dezember 1938 und dem Ausbruch des 2. Weltkrieges im September 1939 12.000 Kinder, darunter 3.200 aus Österreich, gerettet werden konnten. Insgesamt wurden aus Wien 43 Kindertransporte durchgeführt; die meisten nach Großbritannien, aber auch die Niederlande, Belgien, Frankreich, Schweden, die Schweiz und die Vereinigten Staaten von Amerika wurden zu Zufluchtsländern.
Bereits kurz nach dem Anschluss im März 1938 begann die Lehrerin und Sozialarbeiterin Rosa Rachel Schwarz im Mai 1938 im Rahmen der Israelitischen Kultusgemeinde ein Büro für “Kinderauswanderung” aufzubauen. Bis Dezember 1938, als der erste Transport stattfand, waren bereits über 10.000 Kinder angemeldet. Dazu kam, dass von den nationalsozialistischen Machthabern, dem Leiter der “Zentralstelle für jüdische Auswanderung “, Adolf, Eichmann, die Genehmigung für die Ausreise der Kinder eingeholt werden musste. Diese Genehmigung wurde von Geertruida Wijsmuller-Meijer erreicht. Innerhalb weniger Tage musste die Israelitische Kultusgemeinde, allen voran Rosa Rachel Schwarz, Lily Reichenfeld und Franzi Löw-Danneberg, den ersten Kinderzug organisieren, dem noch 42 weitere folgen sollten.
Neben der Israelitischen Kultusgemeinde waren in Wien mehrere andere Organisationen mit der Unterstützung der Auswanderung der Kinder befasst, wie die Quäker, die Aktion Gildemeester und die Schwedische Israelmission. In den Aufnahmeländern wurden ebenfalls Organisationen ins Leben gerufen, wie in Großbritannien das Refugee Children´s Movement.
Die Kinder, es handelte sich dabei um Kinder und Jugendliche im Alter bis 17 Jahre, wurden einer ärztlichen Untersuchung unterzogen und mussten gesund sein. War diese Voraussetzung gegeben, wurden sie für die Transporte in erster Linie nach ihrer Gefährdung ausgewählt, d.h. Kinder, deren Eltern bereits verhaftet oder ausgewiesen wurden, ältere Buben, Kinder aus Waisenhäusern und verarmten Familien. Ab März 1939 benötigte jedes Kind für Großbritannien dann zusätzlich eine Garantie von 50 Pfund Sterling. Jedes Kind durfte nur einen Koffer, der ausschließlich Gebrauchsgegenstände enthalten durfte, aber keinen Schmuck, keine Wertgegenstände, keine Musikinstrumente oder Fotoapparate, mitnehmen. Die Transportkosten wurden von der jüdischen Gemeinde getragen.
Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bedeutete das Ende der Kindertransporte und für jene Kinder, die in den Niederlanden, Belgien und Frankreich aufgenommen worden waren, dass sie durch den Vormarsch der Nationalsozialisten gezwungen waren, erneut die Flucht anzutreten oder unterzutauchen. In Großbritannien bedeuteten die Bombardierungen für viele eine Evakuierung aufs Land. Dazu kam, dass die Kinder in Großbritannien nunmehr als Deutsche und damit feindliche Ausländer angesehen wurden. Männliche Jugendliche ab 16 Jahren wurden ab 1940 in britischen Internierungslagern festgehalten, manche sogar nach Kanada oder Australien transferiert. Auch das Kriegsende bedeutete nicht nur Befreiung, sondern auch Neuorientierung: Ungewissheit, neuerliche Auswanderung, um wieder mit ihrer Familie zusammenzuleben, Konfrontation mit den Schrecken des Holocaust, in dem viele der Kinder Familienmitglieder verloren hatten, und einen Neuanfang.
Was bedeutet es für Eltern, ihr Kind unbegleitet in die Fremde schicken zu müssen, um sein Überleben zu sichern? Was bedeutet es für eine Fürsorgerin, unter den angemeldeten Kindern eine Auswahl der am meisten Gefährdeten treffen und andere zurücklassen zu müssen? Was bedeutet es für ein Kind, Eltern, Geschwister, Freunde, die gewohnte Umgebung verlassen zu müssen und alleine auf sich gestellt sich in einer fremden Umgebung, ohne Kenntnisse der Sprache, zurechtfinden zu müssen? Das besondere Verdienst der von Sabine Apostolo und Caitlin Gura-Redl gestalteten Ausstellung “Jugend ohne Heimat. Kindertransporte aus Wien” ist, auf der Grundlage von wissenschaftlichen Fakten die Perspektiven der Eltern, der Fürsorge der jüdischen Gemeinde und der Kinder sichtbar zu machen und die Geschichte des Überlebens anhand von Einzelschicksalen näher zu bringen.
Die Ausstellung im Jüdischen Museum Wien ist noch bis 15. Mai 2022 im Museum am Judenplatz zu sehen. Da es aufgrund der Corona-Pandemie derzeit vielleicht nicht möglich ist, die Ausstellung zu besuchen, möchte ich darauf hinweisen, dass für alle, die sich mit dieser Thematik befassen wollen, zur Ausstellung ein sehr interessanter Katalog mit dem Titel “Jugend ohne Heimat. Kindertransporte aus Wien” erschienen ist. Er enthält neben grundlegenden Informationen zu den Kindertransporten und Beschreibungen der Situation in den unterschiedlichen Aufnahmeländern USA, Frankreich, Schweden, den Niederlanden und Großbritannien, einige Biografien, darunter jene der Zwillinge Ilse und Helga Aichinger, sowie Artikel über die engagierte Arbeit der Israelitischen Kultusgemeinde Wien bei der Organisation der Kindertransporte und die Grenzen der Kindertransporte sowie über die Aufarbeitung der Geschichte der Kindertransporte.
Katalog: Jugend ohne Heimat. Kindertransporte aus Wien. Hg. von Sabine Apostolo im Auftrag des Jüdischen Museums Wien. Wien 2021. Der Katalog kann über die Homepage des Jüdischen Museums Wien bestellt werden: https://gottfriedundsoehne.com/produkt/jugend-ohne-heimat-kindertransporte-aus-wien-without-a-home-kindertransports-from-vienna/
Kurzfilme: Von den Kuratorinnen der Ausstellung, Sabine Apostolo und Caitlin Gura-Redl, wurden zudem Kurzführungen zu einzelnen Aspekten der Ausstellung gestaltet und auf YouTube veröffentlicht:
Teil 1 (Dauer: 3:27 min) https://www.youtube.com/watch?v=WIysSDv0j7c ,
Teil 2 (Dauer 3:37 min) https://www.youtube.com/watch?v=uDcCQKgy59g
Adresse: Jüdisches Museum Wien – Museum Judenplatz, Judenplatz 8, 1010 Wien https://www.jmw.at/
Öffnungszeiten: Sonntag bis Donnerstag 10:00 -18:00 Uhr, Freitag 10:00 -14: 00 Uhr (Winterzeit) bzw. 10:00 – 17:00 Uhr (Sommerzeit)