Spaziergang II
Heimat bist du großer Töchter!
Zum diesjährigen Frauentag am 8. März gibt es es einen Spaziergang zum Thema “Heimat bist du großer Töchter”. Es war ein langer Kampf, bis das Wort “Töchter” in die österreichische Bundeshymne aufgenommen wurde. Doch dieses eine Wort bedeutet nicht mehr und nicht weniger als die Würdigung der Bedeutung der Frauen und ihres Beitrags für unsere Gesellschaft in der Vergangenheit und in der Gegenwart.
Der Spaziergang ist ein Spaziergang durch den 6. Wiener Gemeindebezirk. Angeregt dazu wurde ich durch die Plakataktion “Große Töchter Mariahilfs”, die von der Mariahilfer Frauenkommission im Jahr 2013 durchgeführt wurde.
Mit diesem Spaziergang möchte ich gleichzeitig alle Frauen anregen, in ihrer Stadt, ihrem Ort, ihrem Lebensumfeld solche Spaziergänge zu initiieren, um Frauen und ihre Leistungen sichtbar zu machen und zu würdigen. Unsere Heimat hat viele große Töchter, ob bekannt oder unbekannt, gewürdigt oder fast vergessen. Unabhängig davon, was sie in ihrem Leben geleistet haben, ob sie eine Firma oder einen Handwerksbetrieb führen, in der biologischen Landwirtschaft tätig sind, in einem künstlerischen Bereich oder in der Wissenschaft und Lehre Leistungen erbracht haben oder erbringen, sozial engagiert waren oder sind oder sich politisch für die Rechte der Frauen eingesetzt haben, um nur einige Beispiele zu nennen. Große Töchter gibt es überall. Es wäre schön, wenn bis zum nächsten Frauentag am 8. März 2023 viele solcher Frauenspaziergänge entstehen würden, in Österreich und weit über die Grenzen hinaus.
Der Spaziergang startet bei der Wiener Sezession (die das Ende des I. Spaziergangs war) und führt bis zur Pilgramgasse.
Gehzeit: etwa 50 bis 60 Minuten
Ausgangspunkt: Vor dem Gebäude der Wiener Sezession (U4, U1, U2, Straßenbahnlinien). Von dort Richtung stadtauswärts die Kreuzung am Getreidemarkt überqueren, nach rechts in den Gemeindemarkt einbiegen und dann gleich wieder links in die Papagenogasse, die zum ehemaligen Haupteingang den Theaters an der Wien führt, der von einer bezaubernden Figurengruppe mit Papageno als Vogelfänger geschmückt ist.
Station I: Theater an der Wien
Marie Geistinger (1836-1903) wurde in Graz als Tochter russischer Hofschauspieler geboren und begann ihre Karriere bereits in Kinderrollen in Graz. Später wurde sie an das Theater in der Josefstadt engagiert, danach führte sie ihr Weg nach Berlin, Hamburg und Riga, bevor sie 1865 ihre Tätigkeit am Theater an der Wien fortsetzte. Sie wurde von Jacques Offenbach als “Königin der Operette” bezeichnet, war die erste Rosalinde in der “Fledermaus” von Johann Strauss, aber auch gefeierte Volksschaupielerin und Tragödin. Das Theater an der Wien hat sie gemeinsam mit Maximilian Steiner von 1869 bis 1875 auch gemeinsam geleitet – eine ganz besondere Leistung für eine Frau zu dieser Zeit. Im Jahr 1877 ging sie nach Leipzig, von 1880 bis 1884 absolvierte sie mehrere erfolgreiche Tourneen in den Vereinigten Staaten. Nach ihrer Rückkehr war sie zuerst wieder in Deutschland tätig und beendete später ihre Karriere in Wien. 1903 ist sie in Klagenfurt gestorben.
Am Theater befindet sich seit 2007 eine Gedenktafel für Marie Geistinger.
Im Haus des Theaters an der Wien waren auch Wohnung und Atelier einer der bedeutendsten Porträtmalerinnen im Wien der Zwischenkriegszeit: Malva Schalek (1882-1944). Mehr über ihre Person erfahren sie später auf diesem Spaziergang in der Dürergasse.
Vom Theater an der Wien, Papagenogasse, führt der Spaziergang weiter rechts die Millöckergasse hinauf; an deren Ende dann links in die Lehargasse einbiegen und diese bis zum Helene-Bauer-Platz weitergehen.
Station II: Helene-Bauer-Platz:
Helene Bauer (1871-1942) wurde in Krakau geboren und wuchs in einer Rabbinerfamilie auf, die auf Bildung großen Wert legte. Sie absolvierte in Krakau das Lehrerinnenseminar, studierte anschließend Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in Wien und musste ihr Studium in Zürich abschließen (in Wien war das damals den Frauen noch nicht möglich), wo sie 1906 zum Doktor der Staatswissenschaften promoviert wurde. Bereits früh setzte sie sich für die sozialdemokratische Bewegung ein. Als sie mit ihrem Mann, Max Landau, nach Wien zog, wurde ihre Wohnung zu einem Treffpunkt der österreichischen und polnischen Sozialdemokraten. So lernte sie auch Otto Bauer kennen, den führenden Theoretiker und späteren stellvertretenden Vorsitzenden der sozialdemokratischen Partei in der 1. Republik. Nach 1914 wurde sie seine Mitarbeiterin und Lebensgefährtin; nach ihrer Scheidung folgte 1920 die Heirat. Sie unterrichtete Statistik an der Wiener Arbeiterhochschule und war als Mitglied des Wiener Stadtschulrates maßgeblich an der Wiener Schulreform beteiligt. Zudem war sie als Journalistin für sozialdemokratische Publikationen tätig. Im Jahr 1934 mussten sie und ihr Mann als Folge der Februarkämpfe fliehen; zuerst nach Brünn, danach nach Paris, wo Otto Bauer 1938 starb. Helene Bauer ging dann nach Schweden und 1941 in die Vereinigten Staaten, wo sie im Jahr 1942 in Berkeley starb.
Der Spaziergang führt nun weiter, indem man/frau links in die Gumpendorfer Straße einbiegt und diese bis zum Haus Nr. 25, (Ecke Gumpendorfer Straße/Laimgrubengasse) entlang geht.
Station III: Gumpendorfer Straße 25:
In diesem Haus hat Marie Franzos gelebt und als Übersetzerin gearbeitet.
Marie Franzos (1870-1941) wuchs in einer gutbürgerlichen jüdischen Familie in Wien auf. Sie legte beim Verein zur Abhaltung akademischer Vorträge für Damen die Staatsprüfung für Französisch ab und erlernte ab 1895 skandinavische Sprachen. Bis 1938 war sie als selbständige Übersetzerin tätig. In dieser Zeit hat sie 112 Bücher von 33 SchriftstellerInnen aus dem Schwedischen, Dänischen und Norwegischen ins Deutsche übersetzt, darunter von so bedeutenden AutorInnen sie der Literaturnobelpreisträgerin Selma Lagerlöf und von Per Hallström. Von ganz besonderer Bedeutung war auch ihre Tätigkeit als aktive Vermittlerin der skandinavischen Literatur, die sie durch Konferenzen und Vorträge im deutschsprachigen Raum bekannt machte. Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich wurden ihr sämtliche Übersetzungsarbeiten verboten; danach war sie auf die Unterstützung von schwedischen AutorInnen und der Schwedischen Akademie angewiesen. Nachdem der Plan, in die Schweiz zu emigrieren, scheiterte, nahm sie dich 1941 das Leben. Artikel zum Weiterlesen: https://www.diequerdenkerin.at/marie-franzos/
Geht man die Gumpendorfer Straße weiter, kommt man zur Stiegengasse. In diese links einbiegen und zur Linken Wienzeile hinuntergehen. Hier lohnt es sich, bei der Ampel die Straße zu überqueren, zurückzublicken und einen Blick auf zwei der schönsten Jugenstilgebäude Wiens zu werfen. Hinweis: auf der gleichen Straßenseite, einige Meter weiter, befindet sich eine öffentliche Toilette.
Danach bei der Ampel die Straße wieder zurücküberqueren; nach einigen Metern kommt man zum Haus Linke Wienzeile 48-52, das heute eine Versicherungsanstalt beherbergt, in den 1930er Jahren aber Arbeitsstätte von Ilse Pisk war.
Station IV: Linke Wienzeile 48-52:
In diesem Haus befand sich das Fotoatelier von Ilse Pisk, einer der wichtigsten FotografInnen im Wien der Zwischenkriegszeit: Ilse Pisk.
Ilse Pisk (1892-1942) gehört zu jenen Fotografinnen, die in der Zwischenkriegszeit sehr erfolgreich waren, aber weitgehend in Vergessenheit geraten sind. In Mähren geboren, machte sie ab 1918 in Wien eine Ausbildung zur Fotografin. 1923 erwarb sie den Gewerbeschein und damit die Berechtigung, als Fotografin zu arbeiten. Nachdem sie zuerst im 3. und 19. Bezirk gearbeitet hatte, führte sie ab Februar 1930 ein eigenes Atelier an der Linken Wienzeile. In den 1930er Jahren war das Atelier von Ilse Pisk eines der bedeutendsten Fotostudios Wiens. Dadurch, dass Ilse Pisk ihre Arbeiten in verschiedenen Zeitschriften veröffentlichte, sind zumindest einige ihrer Arbeiten für die Nachwelt bewahrt worden. Denn aufgrund ihrer jüdischen Herkunft erfolgte bereits im November 1938 die gewerbebehördliche Löschung ihres Ateliers, sie musste ihre Wohnung verlassen und wurde in einer Sammelwohnung untergebracht. Im Jahr 1942 wurde sie in das Ghetto Izbica deportiert, wo sie umgekommen ist. Zum Weiterlesen: https://www.diequerdenkerin.at/ilse-pisk/
Der Spaziergang führt weiter stadtauswärts ein kleines Stück die Linke Wienzeile entlang; dann gleich in die nächste Gasse, die Joanelligasse, rechts einbiegen, diese hinaufgehen und links in die Dürergasse einbiegen. Dort befindet sich ein Gemeindebau, der nach der Malerin Malva Schalek benannt wurde.
Station V: Dürergasse 5:
Malva Schalek (1882-1944) wuchs in einer deutsch-jüdischen Familie in Prag auf und besuchte deutschsprachige Schulen. Da sich schon früh ihr künstlerisches Talent zeigte und ihre Berufwahl, Malerin zu werden, von ihrer Familie unterstützt wurde, übersiedelte sie nach Wien. Da Frauen damals an Kunsthochschulen noch nicht zugelassen waren, nahm sie Privatunterricht, lernte zudem durch das Kopieren alter Meister und konnte für ein Jahr eine Mal- und Zeichenschule für Frauen in München besuchen. Nach ihrer Rückkehr aus München bezog sie ein Atelier im Haus des Theaters an der Wien, in dem sie bis 1938 arbeitete. Sie war eine der anerkanntesten PorträtmalerInnen ihrer Zeit und konnte sich ihren Lebensunterhalt als freischaffende Malerin verdienen. Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich musste sie das Land verlassen und ging zuerst in das Sudentenland, nach dessen Besetzung weiter nach Prag. Im Jahr 1942 wurde sie im
Lager Theresienstadt interniert. Auch im Lager hat sie unter schwierigsten Bedingungen im Geheimen weitergearbeitet und in rund 140 Zeichnungen und Bildern den Alltag des Lagerlebens dokumentiert. Im Mai 1944 wurde sie aufgrund ihrer Weigerung, das Porträt eines mit den Nationalsozialisten kollaborierenden Arztes zu malen, nach Auschwitz deportiert und ermordet. Ihre Zeichnungen wurden nach der Befreiung in einem Versteck gefunden und befinden sich heute in einem Kibbuz in Israel. Zum Weiterlesen: https://www.diequerdenkerin.at/malva-schalek/
Die Dürergasse weitergehen bis zur Eggerthstraße, die Eggerthstraße rechts hinauf, über die Stiege bis zum Apollo-Kino. Beim Apollo-Kino links in die Gumpendorferstraße einbiegen. Von dort sieht man bereits das Haus Nr. 54/Blümelgasse 1, in dem die Familie Adler gelebt hat.
Station VI: Gumpendorferstraße 54/Blümelgasse 1:
Emma Adler (1858-1935) wurde in Debreczin (Ungarn) geboren, wuchs in einer liberalen jüdischen Familie auf, die ihr eine sehr gute Ausbildung ermöglichte. 1878 heiratete sie den Arzt Victor Adler, der später Begründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs und deren erster Vorsitzender wurde und danach ab 1905 Mitglied des Reichsrates (des Parlaments Österreichs während der Doppelmonarchie). Emma Adler war Übersetzerin, Journalistin, Schriftstellerin. Als Schriftstellerin gab sie 1906 ihr Hauptwerk, “Die berühmten Frauen der französichen Revolution 1789-1795” heraus, 1907 veröffentlichte sie ihre Biographie von Jane Welsh Carlyle; zudem schrieb sie mehrere Jugendbücher. Ab Mitte der 1880er Jahre engagierte sie sich in der ArbeiterInnenbewegung und war Lehrerin in Arbeiterbildungsvereinen. Einige Jahre nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1918 zog sie zu ihrem ältesten Sohn nach Zürich, wo sie 1935 starb.
Der Spaziergang führt nun die Gumpendorfer Straße Richtung stadtauswärts weiter. Bis zur Esterhazygasse gehen, nach links in die Esterhazygasse abbiegen und weitergehen bis zur Magdalenenstraße. Dort die Straße überqueren und rechts in die Magdalenenstraße (dieser Abschnitt ist eine Wohnstraße) einbiegen und diese bis zur Hofmühlgasse weitergehen. Bei der Ampel ist schräg gegenüber bereits das Haus Hofmühlgasse 17 sichtbar. An dieser Adresse (das Geburtshaus steht nicht mehr) wurde die Tänzerin Fanny Elßler geboren.
Station VII: Hofmühlgasse 17:
Fanny Elßler (1810-1884) war eine der bedeutendsten Tänzerinnen der Romantik. Bereits in ihrer Kindheit gehörte sie einem berühmten Kinderballett an, später wurde sie an der Ballettschule des Wiener Hoftheaters ausgebildet, danach in Neapel. Ihr Karriere als Tänzerin begann 1830 in Berlin, weitere Stationen waren 1833 London und von 1834-1840 Paris, wo sie mit ihrem eigenständigen Tanzstil Triumphe feierte. Als sie sich in den Jahren 1840 bis 1842 als erste Künstlerin auf das Abenteuer einer Tournee nach Nordamerika und Kuba einließ, konnte sie dort unglaubliche Erfolge erzielen. Danach führten sie ihre “Kunstreisen” quer durch Europa, nach Deutschland, England, Italien, Russland und Wien. 1851 gab sie in Wien ihre Abschiedsvorstellung im Ballett “Faust”. Danach zog sie sich ins Privatleben zurück, wohnte zuerst in Hamburg und ab 1856 in Wien, wo sie 1884 starb.
Die letzte Etappe des Spaziergangs führt nun Hofmühlgasse hinunter bis zur Ecke Linke Wienzeile. Schrägt gegenüber liegt der ehemalige Sitz der sozialdemokratischen Partei und der Arbeiterzeitung, in dem heute der Verein der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung, das Bruno-Kreisky-Archiv und das Johanna-Dohnal-Archiv untergebracht sind und in dem auch Adelheid Popp gewirkt hat.
Station VIII: 5. Bezirk, Rechte Wienzeile 97, Vorwärts-Haus:
Adelheid Popp (1869-1939) war eine er führenden sozialdemokratischen PolitikerInnen der Ersten Republik. Als Kind einer Arbeiterfamilie musste sie bereits ab ihrem 10. Lebensjahr als Heimarbeiterin und in Fabriken arbeiten, eine Zeit, die sie in den “Jugenderinnerungen einer Arbeiterin” beschrieben hat. Sie kannte die Lebens- und Arbeitsbedingungen der ArbeiterInnen und begann bald, aktiv in der sozialdemokratischen Partei mitzuarbeiten. 1892 war sie Mitbegründerin und erste Chefredakteurin der Arbeiterinnen-Zeitung. 1902 gründete sie den Verein sozialdemokratischer Frauen und Mädchen. 1918 wurde sie in den Parteivorstand der sozialdemokratische Partei gewählt, dem sie bis 1933 angehörte. Von 1919 bis 1934 war sie Abgeordnete zum Nationalrat, gehörte zu den ersten weiblichen Abgeordneten im österreichischen Parlament und war die erste Frau, die eine Rede im Nationalrat gehalten hat. Ihr besonderer Einsatz galt dem Kampf um das Wahlrecht, die Frauenrechte, die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, um den 8-Stunden-Tag und die Rechte der Heimarbeiterinnen und Dienstmädchen. 1933 musste sie aus gesundheitlichen Gründen alle Funktionen in der sozialdemokratischen Partei zurücklegen, lebte danach sehr zurückgezogen und starb 1939 in Wien. Zum Weiterlesen: https://www.diequerdenkerin.at/adelheid-popp-2/; https://www.diequerdenkerin.at/adelheid-popp/
Endpunkt: Geht man über die Straße, steht man vor der U-Bahn-Station Pilgramgasse (U4, Bus 13A, 14A, 12 A), dem Endpunkt dieses Spaziergangs.
Überquert man auf die Straße auf der gegenüberliegenden Seite bei der Pilgramgasse und geht stadteinwärts die Hamburgerstraße entlang, kommt man nach ca. 300 Metern zum Cafe Rüdigerhof (Hamburgerstraße 71, 1050 Wien, in der warmen Jahreszeit mit schönem Gastgarten).
Links:
Stadtplan: https://www.wien.gv.at/Stadtplan/
Wiener Linien: https://www.wienerlinien.at/fahrpl%C3%A4ne
Cafe Rüdigerhof: https://ruedigerhof.stadtausstellung.at/panoramen/